Juni - Brief
Liebe Weggefährtin, lieber Weggefährte,
mit diesem Brief schenke ich Dir ein Gedicht der Lyrikerin Mascha Kaléko, die als Tochter eines russischen Vaters und einer österreichischen Mutter 1907 geboren wurde. Nach Schul- und Studienjahren in Berlin wurde sie 1930 für die „Vossische Zeitung“ entdeckt. Hier und im „Berliner Tagesblatt“ erschienen jahrelang ihre Gedichte, die sie rasch zu einer literarischen Berühmtheit in Berlin und darüber hinaus machten. Seit 1938 lebte die Dichterin als amerikanische Staatsbürgerin in New York. Mascha Kaléko starb nach jahrelangem Aufenthalt in Jerusalem im Januar 1975 in Zürich.
Sozusagen grundlos vergnügt
Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen
und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
- Dass Amseln flöten und dass Immen summen,
dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen.
Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen.
Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht
und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehen!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, dass ich bin.
In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
-- weil er sich selber liebt -- den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne
und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freue mich, dass ich … dass ich mich freu.
Mascha Kaléko*
„Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehn, und dass es regnet, hagelt, friert und schneit….“, so beginnt Mascha Kaléko ihr Gedicht „Sozusagen grundlos vergnügt“.
In diesen schwierigen Zeiten der weltweiten Pandemie naiv klingende Verse über eine scheinbar heile Welt? Hunderttausende, ja Millionen Tote weltweit und dann ein Loblied auf die Natur? Wie soll das zusammen gehen?
Seit mehr als einem Jahr grassiert die Corona-Pandemie weltweit. Mit den strengen Kontaktbeschränkungen und den damit einhergehenden einschneidenden Veränderungen des täglichen Lebens kommen nicht alle gut zurecht. Viele Menschen suchen ihr Heil in Verschwörungstheorien, nehmen teil an Querdenker-Demonstrationen, fühlen sich vom Staat verfolgt, vergleichen unsere Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Solche geschichtsverleugnenden Vergleiche und Behauptungen gehen zwar von einer Minderheit aus, doch sie bleiben eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie.
Aber auch wer sich nicht diesen haltlosen Behauptungen anschließt, schaut sich sorgenvoll um. Vieles, was wir uns in unserer so geordneten, vermeintlich gerechten westlichen Welt nicht vorstellen konnten, ist eingetreten: Kontaktbeschränkungen, Reiseverbote, Versammlungsverbote, die Gewissheit, dass Berührungen, Umarmungen, Nähe tödlich sein können, der Verzicht auf Treffen mit Freund_innen und Kamerad_innen, Familienfeiern in Einsamkeit. Wie in diesen Krisenzeiten die Lebensfreude nicht verlieren?
Bei allem Mitleid mit den vielen leidenden Kranken, bei aller Trauer über die Verstorbenen dürfen positive Entwicklungen nicht übersehen werden. In kürzester Zeit konnte ein Impfstoff entwickelt werden, dem weitere folgen. Die Impfungen – jetzt auch bei uns in vollem Gang – ermöglichen nach und nach wieder normales Leben.
Viele haben in diesen bedrohlichen Zeiten auch positive Erfahrungen machen dürfen: Hilfsbereitschaft und Fürsorge, Engagement und Zusammenhalt von Menschen, die nicht nur zum Freundeskreis oder näheren Bekanntenkreis gehören.
„Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehn, und dass es regnet, hagelt, friert und schneit“, diese anfangs irritierenden Zeilen des Gedichts ergeben nun einen Sinn. Es tut gut, sich auf das Wesentliche zu besinnen. „Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn. Ich freue mich vor allem, dass ich bin.“ Es ist diese Freude im Vertrauen auf die Unzerstörbarkeit der Erde, des Lebens im Jahreskreislauf, die Trost bringt in diesen schweren Zeiten und die feiern kann.
Vertrauen wir und trauen wir dem Leben: Leben wir bewusster und leben wir gut und leben wir jeden Augenblick - jetzt.
Es gibt Zeiten im Leben, da ist einfach warten angesagt. Geduldig, aufmerksam und sehr wachsam, ohne Erwartungen warten und der Natur ihren Lauf lassen in dem Vertrauen, dass alles gut ist so wie es ist und dass alles so kommt, wie es am besten ist. In der Bibel sind uns viele Texte überliefert von Menschen, die von ihren schweren Lebenserfahrungen erzählen. Das erste Elternpaar, das auch gleich ein Kind verliert, die Beter der Klagepsalmen und Ijob, der mit seinem Schicksal hadert, der Prophet Jeremia, der sich von Gott und Menschen verlassen fühlt, und viele andere. Wenn man genau hinschaut, ist es oft wie ein Wunder, dass die Menschen die Schicksalsschläge überleben. Ich glaube, wenn wir solche „Überlebenstexte“ neben unser eigenes Leben halten, werden wir spüren, was sie mit uns selber zu tun haben. Vielleicht kannst Du Dich davon inspirieren lassen und Deinem Leben wieder trauen.
(*Text: In meinen Träumen läutet es Sturm, 1977 dtv München)
Mit herzlichen Grüßen für eine gute neue Lebens – Zeit
Dein Georg Mick
Bexbach am 25.05.2021
